Reflexive Koedukation
Koedukation im Sportunterricht ist umstritten: Gegen Koedukation sprechen Argumente der Leistungsförderung und optimalen Entfaltung, dafür die Bedeutung gemischtgeschlechtlicher Interaktionen, die Auflösung von Geschlechtergrenzen und die Umsetzung sozialer Ziele (Alfermann, 1992). Die Studie «Girls in Sport» zeigt, dass für Mädchen in der Schweiz beide Perspektiven wichtig sind.
Ob Schülerinnen und Schüler sich für oder gegen Koedukation im Sportunterricht aussprechen, hängt von ihrer eigenen Sportkultur ab: Wenn sie selbst im Sport genderstereotype Vorstellungen überschreiten, wollen sie eher koedukativ unterrichtet werden, und wenn sie sich an geschlechterstereotypen Vorstellungen und Geschlechterrollen orientieren, plädieren sie eher für einen geschlechtshomogenen Sportunterricht (vgl. Faulstich-Wieland & Herstkemper, 1995, S. 212ff.).
Alle haben dieselben Entwicklungspotenziale
Eine sportdidaktische Antwort auf diese heterogenen Vorstellungen bietet das Konzept Reflexive Koedukation (Faulstich-Wieland, 1991): Es geht davon aus, dass alle Schülerinnen und Schüler dieselben Entwicklungspotenziale haben, und diese im Unterricht möglichst umfassend zu fördern sind. Um dies zu erreichen, kommt es dem Konzept Reflexive Koedukation gemäss darauf an, allen Schülerinnen und Schülern geschlechterbezogen verschiedene Erfahrungsräume zu eröffnen, indem die Geschlechterkonstellationen im Laufe eines Schuljahrs variiert werden.
Die geschlechterbezogene Variation der Klassen ist zu kombinieren mit bestimmten Zielen und Inhalten, und sie trägt dazu bei, die Vorteile des koedukativen und des getrennt geschlechtlichen Lernens im Sportunterricht möglichst umfassend auszuschöpfen. Doch welches sind die relevanten Ziele und Inhalte, die im Kontext der Reflexiven Koedukation ins Spiel kommen?
Ziele im Sinne der Mädchenförderung setzen
Die Entscheidung über die Geschlechterkonstellation in einer Sequenz oder Lektion des Sportunterrichts hängt wesentlich von deren Zielsetzung ab. Sollen Mädchen bezüglich ihres Selbstvertrauens, Durchsetzungsvermögens und ihrer sportlichen Kompetenzen und deren positiver Wahrnehmung gestärkt werden – hierbei geht es um ein Empowerment der Mädchen (Kugelmann, 2002) – bietet sich die Durchführung mädchenparteilicher Sequenzen oder Lektionen im Sport «unter Mädchen» an – also geschlechtergetrennter Sportunterricht.
Inhaltlich stehen dabei Themen im Fokus, die entweder explizit oder implizit einen Gegenpol zu gängigen sportbezogenen Sozialisationsbedingungen von Mädchen zu setzen vermögen: Dabei geht es erstens um die Förderung der Entwicklung individueller Sportinteressen, und damit v.a. die Einstellung, sich als Mädchen im Sport nicht von geschlechterstereotypen Vorstellungen begrenzen zu lassen. Um dieses Ziel zu erreichen, können Mädchen z.B. an explizit männlich konnotierte Sportarten wie Fussball herangeführt werden, ohne sie mit der Erfahrung zu konfrontieren, dass Knaben sich in diesen Sportarten per se kompetenter fühlen (mögen); auch wenn diese Erfahrung nicht zwingend in Erscheinung tritt. Zweitens kann eine prinzipielle Erweiterung des Sportverhaltens dazu beitragen, das auf den Körper und Sport bezogene Selbstvertrauen von Mädchen zu stärken.
Stereotype Vorstellungen überwinden
Hierzu können insbesondere die Sportarten aufgegriffen werden, deren Grundelemente in der Regel eine eher untergeordnete Rolle in der Sozialisation von Mädchen spielen, wie z.B. Kampfsportarten, für die Abgrenzung oder die (freudvolle) Annahme eines auf Gegner-Körper-Kontakt angelegten Kampfes konstitutiv sind. Kurz: im Zentrum steht das Motto «Ich erprobe ohne Beachtung geschlechterstereotyper Barrieren jede mögliche Bewegung, alle Spiele und jeden Sport, um mich für den Sport zu engagieren, der mir persönlich gefällt».
Dem Konzept der Mädchenparteilichkeit gemäss können die auf die bewegungs- sowie auf die sportbezogene Emanzipation der Mädchen zielenden Perspektiven in Mädchengruppen erreicht werden, denn in diesen Gruppen entfällt ein direkter Vergleich mit den Knaben. Dass das Sporttreiben unter Mädchen für Mädchen in der Schweiz wichtig ist, zeigen auch die Befunde der von der Laureus Stiftung Schweiz geförderten Studie «Girls in Sport» (Gramespacher et al., 2015).
Allerdings gibt die Studie auch Hinweise darauf, dass sich Mädchen für das gemeinsame Sporttreiben mit Knaben interessieren, wenn es darum geht, Erfahrungen im gemeinsamen Sporttreiben zu sammeln und auf soziales Lernen abzuheben. Mädchen schreiben dem sozialen Aspekt des Miteinanders und dem Voneinander-Lernens grosse Bedeutung zu. Insofern sprechen die inhaltlichen und die sozialen Interessen der Mädchen selbst für die Umsetzung des genderpädagogischen Konzepts der Reflexiven Koedukation im Sportunterricht.
Reflexive Koedukation organisatorisch ermöglichen
Bei der Umsetzung der Reflexiven Koedukation kommen auch schulorganisatorische Fragen in den Blick. Optimal wäre die Organisation des Stunden- bzw. Hallenbelegungsplans, die eine zeitweise Trennung bzw. Zusammenlegung von Mädchen und Knaben auf derselben Klassenstufe gestattet: Vorausgesetzt, es gibt zwei Sporthallen, könnte z.B. immer für zwei Schulklassen parallel Sportunterricht geplant werden.
Zu bevorzugen sind hierbei zwei Schulklassen derselben Klassenstufe, denkbar wäre aber auch eine Parallelisierung zweier Klassen aneinander angrenzender Klassenstufen. Die beiden Klassen werden von einem aus zwei Lehrpersonen bestehenden Team unterrichtet, wobei ein gemischtgeschlechtliches Lehrpersonen-Team günstig wäre, damit die Mädchen und die Knaben jeweils Vorbilder haben, aber auch, damit in geschlechtergetrennten Sequenzen die Lehrerin die Mädchen und der Lehrer die Knaben unterrichten kann, um jeweils ein Vorbild geben zu können.
Die Lehrpersonen könnten auf diese Weise die Gruppenkonstellation zwischen den zwei Schulklassen in Abhängigkeit von den jeweiligen Unterrichtszielen bzw. -inhalten bezogen auf das Geschlecht der Schülerinnen und Schüler variieren. Sie planen den gesamten Sportunterricht im Teamteaching, und setzen über ein Schuljahr hinweg geschlechterpädagogisch relevante Ziele im Sportunterricht um, je nach Zielperspektive: in gemischten und/oder in geschlechtshomogenen Lektionen bzw. Sequenzen.
Ein Sportunterricht, der geschlechterpädagogisch relevante Ziele verfolgt und auf flexible Weise organisiert ist, ist reflexiv koedukativ, wenn er eine zeitweise Trennung und Zusammenlegung der Geschlechter bei gleichzeitiger Fokussierung auf entsprechende geschlechterpädagogische Ziele gestattet. Mädchen – aber auch Knaben – könnten auf diese Weise im Sportunterricht gezielt und vielfältig gefördert werden.