Bessere Talententwicklung im Nachwuchsfussball
Beim Bio-Banding werden Spielerinnen und Spieler in Training und Wettkampf nach biologischem Alter anstatt nach chronologischem Alter eingeteilt. Befürworter argumentieren, dass durch Bio-Banding die Talententwicklung, das Lernumfeld und die Chancengleichheit im Nachwuchsfussball verbessert wird.
Autoren: Dennis-Peter Born¹, Marie Javet¹, Mirjam Hintermann¹ , Stefan Brunner², Raphael Kern², Jörg Fuchslocher¹, Michael Romann¹
¹ Eidgenössische Hochschule für Sport Magglingen (EHSM), ²Schweizerischer Fussballverband (SFV)
Während der Pubertät zeigen sich bei Spielerinnen und Spielern desselben chronologischen Alters bis zu 5 Jahre Unterschied im biologischen Entwicklungsstand (Abb. 1). Die Phase der Pubertät kann bei Mädchen ab 8 Jahren und bei Jungen ab 10 Jahren beginnen. Dabei beeinflusst der biologische Entwicklungsstand massgeblich die physische Leistungsfähigkeit und insbesondere die Kraft und Schnelligkeit.
Aber auch die psychosoziale Entwicklung wie Führungsqualitäten und Verantwortungsbereitschaft innerhalb der Mannschaft und die Belastbarkeit zeigen einen direkten Zusammenhang mit dem biologischen Entwicklungsstand. Als Konsequenz werden in vielen Sportarten vermehrt die Frühentwickler gefördert und nicht die Spielerinnen und Spieler mit dem grössten Potenzial auf Spitzenleistungen im Elite-Alter.
Warum ist Bio-Bandig wichtig?
Eine Untersuchung in der Fussball Nachwuchsakademie von Manchester United zeigte, dass 10 mal mehr Frühentwickler als Spätentwickler selektioniert wurden (Buchheit & Mendez-Villanueva, 2014). Allerdings haben die frühentwickelten Spielerinnen und Spieler im herkömmlichen Trainings- und Wettkampfsystem nur einen temporären Vorteil. Während sie im Nachwuchs noch die Altersgruppen dominieren, werden sie nach Abschluss des Wachstums oftmals von ehemaligen Spätentwicklern ein- und überholt (Carling, le Gall, Reilly, & Williams, 2009).
Auf dem Weg der Talentselektion werden spätentwickelte Spielerinnen und Spieler meist weniger gefördert. Sie erhalten weniger Aufmerksamkeit von Trainerinnen und Trainern, weniger positives Feedback und weniger Zugang zu guter Trainingsinfrastruktur. Häufig werden spätentwickelte Spielerinnen und Spieler sogar vorzeitig aufgrund ihres momentan tieferen Leistungsniveaus aus den Auswahlkadern heraus selektiert und erreichen den Übergang zur Elite erst gar nicht.
Dadurch werden die Ressourcen bei der Talentselektion nicht immer an der richtigen Stelle eingesetzt und potentielle Talente gehen verloren (Romann, Rössler, Javet, & Faude, 2018). Der Teufelskreis in der Talentselektion und -förderung zeigt die systematische Benachteiligung der spätentwickelten Spielerinnen und Spieler (Abb. 2). Während frühentwickelte Spielerinnen und Spieler (grün) besser gefördert werden, erhalten spätentwickelte Spielerinnen und Spieler (rot) weniger Aufmerksamkeit und Förderung und beenden im schlechtesten Falle ihre Fussballkarriere.
Welche Vorteile bringt Bio-Banding?
Durch die Einteilung der Spielerinnen und Spieler anhand ihres biologischen Alters anstatt des chronologischen Alters (Bio-Banding) entstehen Trainings- und Wettkampfgruppen mit physisch homogenerer Leistungsfähigkeit. Befürworter vom Bio-Banding argumentieren, dass sich frühentwickelte Spielerinnen und Spieler nun nicht mehr nur auf ihren physischen Vorteil verlassen. Durch gleichgrosse und gleichstarke Gegner müssen sie, z.B. in Zweikämpfen, vermehrt ihre technisch-taktischen und mentalen Fertigkeiten anwenden und entwickeln. Sie erfahren ein ausgewogeneres Verhältnis von Erfolg und Niederlage und lernen sich gegen physisch gleich starke Gegner durchzusetzen (Cumming, Lloyd, Oliver, Eisenmann, & Malina, 2017). Durch das insgesamt beschleunigte Spiel, werden sie in schneller Entscheidungsfindung geschult.
Im derzeitigen System verhalten sich spätentwickelte Spielerinnen und Spielern oft zurückhaltend und vermeiden direkte Duelle gegen physisch stärkere Gegner. Durch das Bio-Banding können sie häufiger Zweikampfduelle mit Körpereinsatz und physisch ebenbürtigen Gegnern ausüben. Auch erhalten sie mehr Spielanteile, müssen mehr Verantwortung und Führungsrollen innerhalb der Mannschaft übernehmen. Dadurch erfahren sie mehr Erfolgserlebnisse und positives Feedback seitens der Trainerinnen und Trainer bzw. der Mitspielerinnen und Mitspieler.
Neben einer verbesserten fussballerischen Entwicklung verringert sich das Drop-out von spätentwickelten Spielerinnen und Spielern und die Selektionschance in die nächst höhere Förderstufe wird erhöht. Man geht sogar davon aus, dass sich die Verletzungsgefahr für spätentwickelte Spielerinnen und Spieler verringert, da die enormen Grössen- und Gewichtsunterschiede reduziert werden und bei Zusammenstössen weniger schwere Verletzungen (wie z.B. Knochenbrüche) auftreten (Abb. 3).
Durch das Bio-Banding wird sowohl für früh- als auch spätentwickelte Spielerinnen und Spieler ein besseres Lernumfeld geschaffen und es verringert sich die Plateaubildung bei der Leistungsentwicklung. Im Zuge der Talentselektion läuft man weniger Gefahr, spätentwickelte Spielerinnen und Spieler mit grossem Potential aufgrund ihres biologischen Entwicklungsstandes zu unterschätzen und zu früh aus dem Fördersystem heraus zu selektieren.
Limitationen des Bio-Banding
Während Bio-Banding viele Vorteile hat, bringt es auch Nachteile mit sich. So verläuft die biologische Entwicklung nicht immer synchron zur psychosozialen Entwicklung, die jedoch einen hohen Einfluss auf die fussballerischen Fähigkeiten von Spielerinnen und Spielern hat. Auch deutet die Forschung rund um die «Underdog-Theorie» darauf hin, dass sich häufig Spielerinnen und Spieler aus einem sehr schwierigen und fordernden Umfeld zu Top-Performern entwickeln (Gibbs, Jarvis, & Dufur, 2012). So können spätentwickelte Talente von der jahrelangen hohen Herausforderung durch physisch stärkere Spielerinnen und Spielern im späteren Übergang zum Elite-Alter profitieren. Dies geschieht bei der bisherigen Einteilung jedoch zufällig. Systematisch genutzt werden könnte dies auch im Bio-Banding, indem Talente mit hohem Potenzial basierend auf der Trainereinschätzung gezielt eine Entwicklungsstufe höher trainieren und spielen.
Während gut befreundete Spielerinnen und Spieler durch das Bio-Banding möglicherweise zwei unterschiedlichen Mannschaften zugeteilt werden, lernen sie sich in neuen Teams und Umfeldern zu integrieren. Perspektivisch ist dies ein Vorteil für das spätere Elite-Alter, wo sich Spielerinnen und Spieler innerhalb einer kurzen Vorbereitungszeit auf internationale Grossevents in das neue Gefüge der Nationalmannschaft integrieren müssen. Um die Vorteile beider Einteilungsvarianten, basierend auf chronologischem und biologischem Alter, zu nutzen, bietet es sich an, anteilig beide Formen innerhalb der Talententwicklung durchzuführen.
Wie kann Bio-Banding umgesetzt werden?
Zur Anwendung von Bio-Banding ist die Bestimmung des biologischen Entwicklungsstands notwendig. Dieser kann durch die Einschätzung des Knochenalters mittels Röntgen des Handknochens, Hormonanalysen durch Blutentnahmen oder der Einstufung der sekundären Geschlechtsmerkmale bestimmt werden. Während diese Methoden «invasiv» sind bzw. einen Eingriff in die Privatsphäre mit sich ziehen, werden in der Forschung und Praxis weitere Methoden zur Bestimmung des biologischen Alters beschrieben. Die gängige Methode nach Mirwald (Mirwald, Baxter-Jones, Bailey, & Beunen, 2002) bestimmt anhand der Messung von Gewicht, Körpergrösse und Sitzgrösse das Alter beim Wachstumsspurt.
Neben der Einteilung des biologischen Entwicklungsstands in spät-, normal- und frühentwickelt, lässt sich das biologische Alter aus der Differenz zwischen dem individuellen und durchschnittlichen Alter beim Wachstumsspurt errechnen. Als bewährte Methode für die Praxis hat sich eine ranglistenbasierte Aufteilung der Trainings- und Wettkampfgruppen anhand des biologischen Alters herauskristallisiert. Die Methode nach Mirwald kann bei Spielerinnen im Alter von 10 bis 14 Jahren und bei Spielern von 12 bis 16 Jahren angewandt werden.
Die Gruppenzuteilung sollte jedoch mit der subjektiven Trainereinschätzung der aktuellen physischen, technisch-taktischen und psychosozialen Leistungsfähigkeit überprüft und im begründeten Fall modifiziert werden. So lässt sich eine gewichtete Rangliste aus Mirwald und Trainereinschätzung erstellen und der Trainings- und Wettkampfbetrieb in homogeneren Gruppen durchführen.
Empfehlung für die Gruppenzuteilung beim Bio-Banding
- Schritt 1: Bestimmung des biologischen Alters nach Mirwald
- Schritt 2: Trainereinschätzung bezüglich physisch, technisch-taktisch und psychosozialer Fähigkeiten
- Schritt 3: Gruppeneinteilung (Bio-Banding) gemäss «gewichteter Rangliste» basierend auf Mirwald und Trainereinschätzung
Blick in die Zukunft
Viele Fragen bezüglich des Bio-Banding sind noch offen. Unklar ist, welche langfristigen Auswirkung das Bio-Banding auf die fussballerische Entwicklung hat. Auch existieren verschiedene Methoden zur Bestimmung des biologischen Entwicklungsstands. Während die beschriebene Methode nach Mirwald die derzeit beste Mischung aus Praktikabilität und Validität verspricht, bleibt dies noch unter wissenschaftlichen und praktischen Gesichtspunkten zu bestätigen.
Auch sollte das Bio-Banding nicht nur nach anthropometrischen Kriterien durchgeführt, sondern die technisch-taktischen und psychosozialen Fähigkeiten mit einbezogen werden. Eine Überprüfung der Gruppenzuteilung durch die Trainereinschätzung erlaubt die gezielte Förderung von spätentwickelten Spielerinnen und Spielern mit hoher aktueller Leistungsfähigkeit, indem sie mit biologisch Älteren zusammenspielen (analog zur Underdog-Theorie).
Auf der anderen Seite können auch frühentwickelte Spielerinnen und Spieler mit hohem Potenzial jedoch aktuell niedrigerer Leistung (z.B. durch Wachstumsschübe) einer Gruppe zugeteilt werden, in der sie optimal gefördert werden. Folgende Fragen bedürfen einer Klärung aus wissenschaftlicher Sicht:
- Ab welchem Alter sollte Bio-Banding eingeführt werden?
- Nach welcher Methode wird der biologische Entwicklungsstand bestimmt und wie werden die Trainings- und Wettkampfgruppen (Bio-Bands) eingeteilt?
- Wie lassen sich bestmöglich die technisch-taktischen und psychosozialen Fähigkeiten neben den physischen Fähigkeiten einbeziehen?
- Welche langfristigen Auswirkungen hat Bio-Banding auf die fussballerische Entwicklung?
Aufgaben für das Sportsystem
Derzeit gehen in der Nachwuchsförderung wahrscheinlich viele spätentwickelte Talente verloren und die vorhandenen Ressourcen werden nicht optimal eingesetzt. Daher sollten folgende Punkte optimiert werden:
- Sensibilisierung und Weiterbildung der Trainer/innen und Funktionäre zum Einfluss des biologischen Entwicklungsstands im Nachwuchsfussball.
- Fokussierung auf die Entwicklung der Talente mit Potential auf spätere Höchstleistungen, nicht auf den aktuellen Erfolg.
- Relativierung der Resultate von Leistungstests anhand des biologischen Entwicklungsstands und entsprechender Referenzwerte von biologisch Gleichaltrigen.
Der Schweizerische Fussballverband geht diese Aufgabe bereits an und führt seit Beginn der Saison 2018/2019 ein Pilotprojekt mit Bio-Banding auf der Stufe FE-13 und FE-14 mit den Vereinen FC Aarau Stadt, FC Aarau West, FC Wohlen, FC Baden, FC Luzern und FCL Nord durch.
Die Durchführbarkeit und die Auswirkung des Bio-Banding auf die Spielerentwicklung werden durch die Eidgenössische Hochschule für Sport (EHSM) analysiert. In diesem Rahmen wird der biologische Entwicklungsstand anhand der Methode nach Mirwald bestimmt und Daten aus Spielen und Trainingseinheiten analysiert. Langfristig erhofft sich der SFV durch das Bio-Banding mehr Chancengleichheit bei der Talentselektion und Talententwicklung. Ziel ist die Qualitätsverbesserung des Spielerpools im Nachwuchsfussball und der Erfolg im Spitzenfussball.
Die Mirwald-Methode einfach erklärt
Diese anthropometrische Messmethode ermöglicht es, die biologischen Entwicklungsstände von Sportlern und Sportlerinnen in der Pubertät zu bestimmen. In diesem Video erfahren Sie, wie Sie diese Messungen korrekt durchführen und wie Sie das Analyse-Tool nutzen können.