Fokus – Mitten unter uns
Die aktuellen Daten des Bundesamtes für Statistik sprechen für sich: Über 1.7 Millionen Menschen mit einer Behinderung leben laut Schätzungen in der Schweiz. Gemessen an der Landesbevölkerung – die laut Prognose 2023 die 9 Millionen-Marke knackt – ist fast jede fünfte Person betroffen.
Auch hier stellt sich die Frage: Wie sehen die effektiven Zahlen aus? Wer wird in dieser Zahl berücksichtigt und wer nicht?
Aus dem Autismus-Spektrum
Es ist kein Geheimnis, dass noch heute etliche Fälle von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) nicht ärztlich abgeklärt werden. Bei der Boomer-Generation und deren Eltern wurden Personen, die heute ins Autismus-Spektrum fallen, oft mit dem Prädikat «speziell» oder «seltsam» versehen. Der Begriff ASS wurde definiert, weil es sich nicht um kognitive Beeinträchtigung handelt. Bis Ende 1990er Jahre wurden nur die beiden Formen Asperger und frühkindlicher Autismus unterschieden und der geistigen Behinderung zugeordnet. Autismus wird gemäss ICD (siehe Box) zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gezählt. Mittlerweile wird häufiger von «Neurodiversität» respektive «neurodivergenten Menschen» gesprochen.
Stereotyp «Zappel-Philipp»
Momentan lassen sich in der Schweiz zahlreiche Erwachsene auf die Diagnose ADS und ADHS abklären. Man könnte von einem Trend sprechen. Tatsächlich ist dieser Umstand auf inzwischen widerlegte wissenschaftliche Annahmen und fehlende Aufklärung in den letzten Jahrzehnten zurückzuführen.
Den Meisten ist das Stereotyp «Zappel-Philipp» bekannt. Damit werden vor allem Jungs bezeichnet, die nicht oder nur schwer stillsitzen können. Aber wie sich ADHS bei vielen betroffenen Mädchen und Frauen äussert, wissen die Wenigsten. Spannende Erkenntnisse dazu lesen Sie zum Beispiel auf der Website von EnableMe, der Plattform der Stiftung MyHandicap.
Eine zusätzliche Zielgruppe
Um das Total der Personen innerhalb der Schweizer Bevölkerung zu erhalten, die in Alltagssituationen durch ihre Art des Seins beeinträchtigt sind, müsste man zusätzlich alle Personen mit diagnostiziertem ADS und ADHS dazurechnen. Und auch die jüngste Zielgruppe von PluSport sei an dieser Stelle erwähnt: Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen.
Eine Denksport-Aufgabe: Wie hoch ist der inoffizielle Prozentsatz der Schweizer Bevölkerung, die durch unser System und unsere Gesellschaft beeinträchtigt werden? Da es sich um inoffizielle Zahlen handelt, dürfte die vermutete Antwort zumindest zu denken geben.
Ganz unabhängig davon sollen untenstehende Inputs dabei helfen Barrieren abzubauen und Menschen mit Behinderung etwas «ungehemmter» zu begegnen.
Inputs: Inklusiv handeln – aber wie?
- Was einen Menschen ausmacht, sind neben seinen körperlichen oder kognitiven Fähigkeiten, besonders auch seine Persönlichkeit, sein Denken, Fühlen und Handeln. Definieren Sie einen Menschen daher nach diesen Kriterien, nicht über sein Defizit. Denn mit Einschränkungen müssen die allermeisten leben – zumindest manchmal.
- Bieten Sie den Handschlag zur Begrüssung an, auch wenn Ihr Gegenüber keine Hände/Arme, Prothesen oder nur reduzierte Kontrolle über seine Hände/Arme hat. Die Person wird Sie wissen lassen, was zu tun ist.
- Vermeiden Sie ungefragtes Helfen. Ihr Gegenüber wird Ihre Hilfe von sich aus beanspruchen. Warten Sie auf konkrete Anweisungen. Das, was Ihnen auf den ersten Blick richtig erscheint, ist nicht unbedingt das, was ihr Gegenüber braucht. Sollten Sie keine Anweisungen bekommen, fragen Sie nach. Das ist völlig in Ordnung.
- Bleiben Sie locker: Gehen Sie aufgrund der Behinderung nicht übervorsichtig mit Ihrem Gegenüber um. Es handelt sich um einen Menschen, nicht um ein rohes Ei. Sprechen Sie mit ihm wie mit jedem anderen auch.
- Sprechen Sie direkt mit Ihrem Gegenüber, nicht mit dessen Begleiter/-in.
- Sprechen Sie ganz normal. Es ist meistens nicht nötig, überbetont oder extra laut zu reden ausser, Sie werden darum gebeten. Wählen Sie dabei eine altersentsprechende Ansprache (keine Babysprache).
- Bleiben Sie sich selbst. Vermeiden Sie keine Wörter, die sich vermeintlich mit der Behinderung Ihres Gegenübers kontrastieren. Sie können einen Menschen im Rollstuhl durchaus fragen «wie es läuft» oder zu einem sehbehinderten Menschen sagen «Wir sehen uns dann».
- Bestimmte Behinderungsarten bedingen Sprachprobleme, z.B. spastische Lähmungen oder Gehörlosigkeit. Haben Sie Geduld mit Ihrem Gegenüber, wenn er/sie mehr Zeit zum Antworten braucht. Dies ergibt sich lediglich aus der körperlichen Einschränkung und bedeutet nicht, dass diese Person deshalb in ihrem Denkvermögen eingeschränkt ist.
- Mitleid ist fehl am Platz: Menschen mit Behinderungen definieren sich nicht über ihre Einschränkungen, sind nicht zwingend unglücklich oder krank.
ICD- und ICF-Klassifizierung
Bei der ICD-Klassifizierung handelt es sich um eine internationale statistische Einteilung der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. Um medizinische Diagnosen und Behandlungen zu strukturieren und einheitlich zu benennen, wurden unter anderem diese ICD-Codes geschaffen. Die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) klassifiziert Komponenten von Gesundheit: Körperfunktionen, Körperstrukturen, Aktivitäten und Partizipation (Teilhabe) sowie Umweltfaktoren.
Weitere Informationen:
- Systematisches Verzeichnis | Bundesamt für Statistik
- Was ist der ICD-Code? | gesund.bund.de
- ICF-Klassifikation | REHADAT-ICF-Lotse