Teil 1 – Eigenschaften und Motive
«Ich bin halt, wie ich bin», hat neulich ein Trainer zu seiner Athletin gesagt. Über viele Generationen hat dieses Denken funktioniert. Heute erwarten junge Athletinnen und Athleten flexible Coaches, die ihre Komfortzone verlassen, sich reflektieren und im «Entwicklermodus» funktionieren. In einer Serie gehen wir der Trainerpersönlichkeit auf den Grund.
Blog-Beiträge der Trainerbildung Schweiz (TBS)
Die Trainerbildung Schweiz (TBS) baut ihr digitales Angebot zur Unterstützung von Trainerinnen und Trainern stetig aus. Dazu publizieren wir regelmässig spannende Blog-Beiträge sowie Tipps und Tricks für Training und Wettkampf.
Autoren: Philipp Schütz, Verantwortlicher Berufstrainerlehrgang Trainerbildung Schweiz; Dr. Stephan Horvath, EHSM Ressort Leistungssport, Sportpsychologie, Trainerbildung Schweiz
Bestimmt habt ihr euch das eine oder andere Mal schon die Frage gestellt, ob eure Trainerpersönlichkeit den Anforderungen im Leistungs- und Spitzensport genügt? Seid ihr hinreichend offen, strukturiert, motivierend, einfühlsam und ausgeglichen? Wenig überraschend sagt die aktuelle Forschung, dass es nicht «die» erfolgreiche Trainerpersönlichkeit gibt. Forschungsresultate zeigen aber auch auf, dass Persönlichkeitsentwicklung zum eigenen Trainerweg ebenso dazugehört wie Fachausbildungen.
Gerardo Seoane, ehemaliger Meistertrainer der Berner Young Boys und aktueller Coach vom Bundesligaklub Bayer Leverkusen, bringt es im Interview mit der Trainerbildung Schweiz auf den Punkt: «Als Trainerin oder Trainer sollte man ziemlich schnell erkennen, dass die Anforderungen an unsere Aufgabe riesig sind. Wir bewegen uns in unendlich vielen Feldern, in denen wir unsere Kompetenzen fortwährend weiterentwickeln dürfen. Wenn wir unser Mindset dauerhaft in den «Entwicklermodus» schalten, dann passiert laufend etwas mit uns. Und es macht erst noch riesig Spass!»
Das Persönlichkeits-Puzzle: Was unsere Persönlichkeit ausmacht
Wenn wir unsere Persönlichkeit (aber auch die unserer Athletinnen/Athleten) verstehen, können wir Verhalten erklären und auch die Persönlichkeitsentwicklung erfolgreich gestalten. Einige zentrale Komponenten der Persönlichkeit wollen wir in dieser Serie aufgreifen.
- Eigenschaften: Sie beschreiben die Art und Verhaltenstendenzen einer Trainerin / eines Trainers. Trotz einer gewissen Stabilität sind auch Eigenschaften veränderbar.
- Motive, Selbstwert und Werte: Individuelle Motive (z.B. einen hohen Selbstwert zu wahren) oder Wertvorstellungen führen zu spezifischen Verhaltensweisen von Trainerinnen und Trainern.
- Rollen: Unterschiedliche Rollen fordern unterschiedliche Verhaltensweisen.
- Eigene Geschichte: Im Erzählen der eigenen Geschichte zeigt sich, was für uns Trainerinnen und Trainer wichtige Ereignisse waren und wie klar wir unsere eigene Persönlichkeit sind.
- Kultur/Situation: Die (Sport-)Kultur gibt vor, ob ein bestimmtes Verhalten erwartet bzw. akzeptiert und toleriert wird.
Eigenschaften: Das zeichnet mich aus!
Die Forschung hat gezeigt, dass sich Persönlichkeitseigenschaften auf fünf breit gefasste Grunddimensionen zusammenfassen lassen.
Welche Eigenschaften sind hilfreich?
Alle – es kommt immer auf die Situation an! Jede Ausprägung kann für Trainerinnen und Trainer Vor- und Nachteile haben. Schauen wir uns ein paar konkrete Beispiele an:
Offenheit
- Stark ausgeprägt: Trainer/-innen finden neue Wege und Lösungen, sind erfinderisch und neugierig, um Herausforderungen im Training und Wettkampf zu meistern. Können aber auch «zu» viele neue Lösungsansätze fordern, kommen daher manchmal vom Weg ab.
- Wenig ausgeprägt: Trainer/-innen bleiben cool und springen nicht auf jeden Trend auf. Hinterfragen nicht immer alles. Können aber auch «zu» konservativ und vorsichtig sein und keinen Ausweg finden.
Gewissenhaftigkeit
- Stark ausgeprägt: Trainer/-innen verfügen über eine klare Linie/Struktur, sind effektiv und organisiert, vermitteln damit ihren Athletinnen Sicher- und Verlässlichkeit. Können aber auch Chancen verpassen, weil sie zu wenig flexibel und spontan sind.
- Wenig ausgeprägt: Trainer/-innen wirken unbekümmert und locker, lassen die Fünf auch mal gerade sein. Wirken aber zumal auch chaotisch oder nachlässig und verpassen wichtige Schritte/Aufgaben im Entwicklungsprozess.
Extraversion
- Stark ausgeprägt: Trainer/-innen motivieren ihr Team, gehen voran, sind gesellig, verbreiten gute Stimmung. Stehen selbst aber manchmal zu stark im Mittelpunkt.
- Wenig ausgeprägt: Trainer/-innen geben Athletinnen und Athleten viel Raum, sind gute Beobachter. Haben aber wenig Einfluss auf die Stimmung im Team, wirken zumal passiv, reserviert und zurückhaltend.
Verträglichkeit
- Stark ausgeprägt: Trainer/-innen stellen die Athletin / den Athleten ins Zentrum, sind mitfühlend, kooperativ und freundlich, übergeben gerne Verantwortung. Wirken zumal aber auch naiv, verletzlich und können das Ziel aus den Augen verlieren.
- Wenig ausgeprägt: Trainer/-innen sind wettbewerbsorientiert. Sie zeigen eine «emotionale Robustheit», schauen auch mal für sich. Kooperation und Kollaboration sind für sie aber manchmal schwierig, «spüren» die Athletinnen und Athleten wenig.
Neurotizismus
- Stark ausgeprägt: Trainer/-innen fordern von den Athletinnen und Athleten durch ihre emotionale Art eine hohe Anpassungsfähigkeit; man weiss nie, was kommt. Verhalten kann aber auch energieraubend und zumal verletzend sein.
- Wenig ausgeprägt: Trainer/-innen wirken stabil, konsistent, ruhig und selbstsicher. Verströmen viel Gewohnheit, erzwingen aber auch wenig Überraschungen, die vielleicht nötige Anpassungen erfordern.
Überlege Dir
- Welche Ausprägungen sind in deinem Trainer(-innen) Alltag hilfreich/gefragt und welche bringst du eher mit?
- Welche Eigenschaften möchtest du vermehrt «ausprobieren»?
- Schau Dir den Trainertalk mit Christian Wohlwend und Gerardo Seoane zum Thema «Was zeichnet den erfolgreichen Coach aus»?
Motive: Das treibt mich an!
Als Trainerinnen und Trainer haben wir alle ähnliche Grundbedürfnisse und Motive, die aber unterschiedlich ausgeprägt sein können. Motive sind die Antreiber unseres Verhaltens. Kennen wir das jeweilige Motiv, können wir unser und fremdes Verhalten besser verstehen. Ist ein einzelnes Motiv befriedigt, rückt es in den Hintergrund, dafür andere Motive in den Fokus.
Zu den Grundbedürfnissen – oder was wir alle mehr oder weniger brauchen – gehören Zugehörigkeit, Kompetenz und Autonomie. Sind diese befriedigt, geht es uns gut und wir sind motiviert und angetrieben.
Nebst den allgemeinen Bedürfnissen gibt es aber auch sehr individuelle Motive, durch die Trainerinnen und Trainer angetrieben werden:
- Neugier: Ich will als Trainerin/Trainer immer wieder Neues lernen.
- Status oder Macht: Ich will als Trainerin/Trainer von anderen respektiert/anerkannt werden bzw. andere beeinflussen.
- Beziehungen: Ich will mit anderen Menschen zusammen sein.
- Unabhängigkeit: Ich will mich mit meinem Trainerjob unabhängig machen.
- Idealismus: Ich will durch mein Handeln im Sport die Welt (meine Sportart) besser machen.
- Leistung: Ich will gewinnen.
- Rache: Ich will es meinen Kritikern zeigen.
Weiterlesen
- Reiss St. (2009). Das Reiss Profil. Die 16 Lebensmotive. Welche Werte und Bedürfnisse unserem Verhalten zugrunde liegen. Gabal.
- Wegner M. (2020). Implizite Motive im Sport. In: Schüler J., Wegner M., Plessner H. (eds) Sportpsychologie. Springer, Berlin, Heidelberg.
- Deci, E.L. & Ryan, R.M. (2000). The “what” and “why” of goal pursuits. Human needs and the self-determination of behavior. In: Psychological Inquiry 11(4), p. 227-268.
Entscheidend für die praktische Anwendung der Theorie der eigenen Motive sind drei Erkenntnisse:
- Jedes Motiv kann ein Leistungsmotor sein.
- Eine besonders starke bzw. besonders schwache Ausprägung von Motiven steht für einen starken Leistungsantrieb.
- Ein Motiv steht nie alleine; die Kombination der Motive ist wichtig.
Überlege Dir
- Welche Motive treiben dich an?
- Welche Motive kannst du in deinem Trainerjob befriedigen und welche nicht?
Interessant!
Während Selbstwert eine Eigenschaft ist, stellt das Streben oder Aufrechterhalten des Selbstwert ein Motiv dar. Für Trainerinnen und Trainer und ihre Athletinnen und Athleten ist das ein wichtiges Thema – darum hier einige Gedanken dazu.
Wie steht es um deinen Selbstwert?
Unser Selbstwert ist Schwankungen ausgesetzt. Um diese aufzufangen, sollte man den eigenen Selbstwert nicht von einer einzigen Quelle abhängig machen (z.B. der Trainerrolle). Selbstwert ist das Bedürfnis, sich selber als gut, kompetent, wertvoll und von anderen geliebt zu fühlen. Zur Bildung eines starken Selbstwertgefühls braucht es eine wertschätzende Umgebung, die einem etwas zutraut und unterstützt.
Überlege Dir
- Aus welchen Quellen (Personen, Umfeld) wird dein Selbstwert bestimmt?
- Ist dein Selbstwert nur von einem Gebiet abhängig? (Gefahr: wenig Kompensations-Potential)
Mögliche Selbstwertquellen für Trainerinnen und Trainer
- Leistungsabhängiger Selbstwert: Resultate, Athletenentwicklung, Trainerjob
- Sozialer Selbstwert: Familie, Freunde, Staff, Klubumfeld
- Emotionaler Selbstwert: Bewältigung von Herausforderungen, Stabilität
- Körperlicher Selbstwert: Sportliche Erscheinung, körperliche Fähigkeiten (Modell)
Verpasse nicht
Coming soon
- Teil 3: Kultur, Authentizität/Flexibilität und Lebensgeschichte
«Ohne Selbstreflexion keine Entwicklung!»
In einer vierteiligen Serie hat sich die Trainerbildung Schweiz 2020 dem Thema «Selbstreflexion» gewidmet. Hier geht’s zu den vier Artikeln.
Quellen & weiterführende Literatur
- Bartholomew, B. (2018). Die Kunst, ein guter Trainer zu sein: Wie man mit Klienten kommuniziert, um das Beste aus ihnen herauszuholen. Riva Verlag.
- Coulter, T. J., Mallett, C. J., Singer, J. A., & Gucciardi, D. F. (2016). Personality in sport and exercise psychology: Integrating a whole person perspective. International Journal of Sport and Exercise Psychology, 14(1), 23-41.
- McAdams, D. P., & Pals, J. L. (2006). A new Big Five: fundamental principles for an integrative science of personality. American psychologist, 61(3), 204.
- Mallett, C. J., & Lara-Bercial, S. (2016). Serial winning coaches: people, vision, and environment. In Sport and Exercise Psychology Research (pp. 289-322). Academic Press
- Vazire, S. (2010). Who knows what about a person? The Self-Other Knowledge Asymmetry (SOKA) model. Journal of Personality and Social Psychology, 28, 281-300.
- Reiss, S. (2000). Who Am I? The 16 basic desires that motivate our actions and define our personalities. Tarcher/Putnum.
- Lippmann, E. (2013): Coaching. Angewandte Psychologie für die Beratungspraxis. Heidelberg: Springer.
- Rauen. C. (2005): Handbuch Coaching. Göttingen: Hogrefe.
- Ronglan, L. T. (2011). Social interaction in coaching. I: R. L. Jones, P. Potrac, C. Cushion & L. T. Ronglan (Eds.), The sociology of sports coaching. (s. 151-165). London: Routledge
- Jones, R. L., Bailey, J. & Thompson, A. (2013). Ambiguity, noticing and orchestration. Further thoughts on managing the complex coaching context. I: P. Potrac, W. Gilbert & J. Edison (Eds.), Routledge handbook of sports coaching. (pp. 271-282). London: Routledge.