Die Kreuzbandverletzung
Verletzungen des vorderen Kreuzbandes ohne Einwirkung von aussen kommen bei Frauen im Nachwuchsleistungssport sowie im Breitensport vier bis sechs Mal häufiger vor als bei Männern. Besonders kritisch ist der Altersabschnitt zwischen 15 und 25 Jahren. In dieser Zeitspanne ist die Hälfte der Verletzungen zu verzeichnen. Entsprechend kann das für junge Athletinnen schwerwiegende Konsequenzen haben.
Das vordere Kreuzband hat eine wichtige Funktion für die Beweglichkeit des Knies. Es gewährleistet die Kniestabilität und die Kontrolle während den Beuge-, Streck- und Drehbewegungen. Es verhindert eine zu starke Verschiebung des Schienbeins (Translation der Tibia) nach vorne und die Knieüberstreckung während des Bodenkontaktes. Langfristig kann eine Instabilität in den Knien zu Meniskus- und Knorpelschäden führen.
Zudem liegt die Wahrscheinlichkeit einer Arthrose-Erkrankung bei Sportlerinnen und Sportlern mit einer vorderen Kreuzbandruptur deutlich höher. Dies auch nach einer operativen Rekonstruktion. Denn allein schon das Trauma scheint einen Einfluss auf die Entstehung von Folgeschäden zu haben.
Komplexe Krafteinwirkungen
70 Prozent aller vorderen Kreuzbandverletzungen entstehen in Nicht-Kontakt-Situationen, d.h. ohne gegnerische Krafteinwirkung. Solche Verletzungen entstehen durch komplexe Krafteinwirkungen auf das Knie, wie z.B. bei Drehbewegungen, unkontrollierten Manövern beim Spiel, beim Abbremsen und Rückwärtslanden nach einem Sprung.
Als Folge der komplexen Krafteinwirkungen knickt das Knie nach innen ein (X-Beine). Dabei reisst das vordere Kreuzband meist in einem Kniewinkel von 0 bis 30 Grad (siehe Abb.). Zu den Hochrisikosportarten für Knieverletzungen gehören Ballsportarten und der Schneesport im Allgemeinen.
Die Risikofaktoren
Es gibt zwei verschiedene Bereiche von Risikofaktoren zur Kreuzbandverletzungen. Zum einen sind dies die umfeldbedingten oder extrinsischen Risikofaktoren, wie z.B. Schuhbelag und Sportausrüstung. Zum anderen spielen Technik (Sprung/Landung), Genetik und Geschlecht (Anatomie, Biomechanik, Hormone) eine Rolle. Diese als intrinsisch bezeichnete Risikofaktoren haben einen grossen Einfluss auf das höhere Verletzungsrisiko bei Frauen.
Extrinsische Faktoren
Schuhsohlen können das Verletzungsrisiko beeinflussen. Im Handball wurde ein hoher Reibewiderstand (Bremswirkung) zwischen Schuhsohle und Belag des Spielfeldes als wichtiger Risikofaktor für vordere Kreuzbandverletzungen ohne Kontakt mit Mitspieler/-innen identifiziert. Auch das Stollendesign von Fussballschuhen spielt eine Rolle: je höher der Verdrehungswiderstand (Torsionswiderstand) desto grösser das Verletzungsrisiko. Zudem beeinflusst der Spielfeldbelag, wie z.B. trockene Fussballböden, das Verletzungsrisiko.
Intrinsische Faktoren
Ein Grund für vordere Kreuzbandverletzungen ist eine breitere Beckenstellung bei Frauen, welche die Neigung zu einer Valgusstellung des Knies (X-Beine) begünstigt. Somit ist die Position des Oberschenkelknochens weiter aussen (lateral). Dadurch ist der Q-Winkel grösser (siehe Abb.). Dies beeinflusst die Krafteinwirkung auf das Knie. Zudem tragen Menschen mit engerer Kreuzbandhöhle (Notch, siehe Abb. oben) ein höheres Risiko, ein- oder beidseitige vordere Kreuzbandverletzungen zu erleiden. Frauen haben generell eine engere Notch als Männer, was eine Teilursache des erhöhten Verletzungsrisikos darstellt.
Mit dem Beginn der Pubertät nimmt die Gelenksbeweglichkeit (Laxität) bei jungen Frauen im Vergleich zu jungen Männern zu. Die passive Stabilität des Gelenks lässt somit etwas nach, womit die aktiven Stabilisatoren, die Muskeln, umso wichtiger werden. Dies führt zu einer höheren Verletzungsanfälligkeit im Kapsel-Band-Apparat, insbesondere während der Pubertät.
Frauen haben ein signifikantes neuromuskuläres Ungleichgewicht zwischen der vorderen und hinteren Oberschenkelmuskulatur. Das heisst: Frauen können weniger schnell die hintere Oberschenkelmuskulatur ansteuern, also jene Muskulatur, die neben dem vorderen Kreuzband die Verschiebung des Schienbeins nach vorne verhindert. Des Weiteren haben Frauen eine verminderte Kraft der seitlichen Gesässmuskulatur (Hüftabduktoren/-aussenrotatoren). Diese Muskulatur ist wichtig bei der Stabilisierung des Knies und somit der Kontrolle der Beinachse. Sie ist im Wachstum, oft auch bei erwachsenen Breitensportlerinnen, relativ zum Körpergewicht geringer als beim Mann.
Die Technik bei Landungen ist ebenfalls ein Risikofaktor. Frauen haben meist ein weniger vorteilhaftes Bewegungsmuster als Männer. Sie landen in einem eher höheren Kniewinkel (wenig gebeugtes Knie) mit flachem Fuss und aufrechterem Oberkörper, was zur Folge hat, dass nicht die gesamte Oberschenkelmuskulatur das Knie optimal stabilisiert.
Weiter beeinflussen Hormone die Verletzungsanfälligkeit. Aktuelle Studien, die untersuchten, in welcher Zyklusphase das vordere Kreuzband anfälliger auf Verletzungen ist, lassen jedoch noch keine definitive Aussage zu. Erkenntnisse der Einflüsse des weiblichen Zyklus auf die neuromuskulären Funktionen lassen aber Vermutungen anstellen. Es konnte gezeigt werden, dass die Kraft der vorderen Oberschenkelmuskulatur in Abhängigkeit vom Zyklus deutlichen Schwankungen unterliegt. Sie ist zum Zeitpunkt der Ovulation signifikant höher als in der Follikel- und Lutealphase (siehe Abb. rechts). In Bezug auf die Ermüdbarkeit des Muskels wurde ein weiterer Unterschied bestätigt. Diese ist in der Lutealphase signifikant geringer als während anderer Zyklusphasen. Die zyklusabhängigen Schwankungen der Kraft und der muskulären Ermüdbarkeit konnten bei Frauen, die eine orale Kontrazeption einnehmen, nicht nachgewiesen werden. Die Ergebnisse stützen die These, dass der weibliche Zyklus einen Einfluss auf die Verletzungsanfälligkeit des vorderen Kreuzbandes haben könnte.
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