Leadership

Vertrauen als Basis erfolgreicher Führung

Wenn dein Team auch ohne dich funktioniert! Ob nun die Kontrolle über jeden und alles oder das Vertrauen in deine Athletinnen und Athleten besser für eine erfolgreiche Führung ist: Dieser Grundsatzorientierung geht der Blogbeitrag nach.

Blog-Beiträge der Trainerbildung Schweiz (TBS)

Die Trainerbildung Schweiz (TBS) baut ihr digitales Angebot zur Unterstützung von Trainerinnen und Trainern stetig aus. Dazu publizieren wir regelmässig spannende Blog-Beiträge sowie Tipps und Tricks für Training und Wettkampf.

Caochin und Athletin bei einer Unterhaltung.

Autor: Andreas Schwaller, Verantwortlicher Fachbereich Leadership

Am 18. November 2017 um kurz vor 9 Uhr sitze ich angespannt auf der Zuschauertribüne in St. Gallen. Es ist kurz vor dem Curling-EM-Eröffnungsspiel Schweiz gegen Holland. Seit Herbst 2010 war ich Nationaltrainer von Swiss Curling und seit 7 Jahren bei sämtlichen Länderspielen als Nationaltrainer verantwortlich und hautnah dabei. Nun habe ich eine neue Rolle als Chef Leistungssport und nehme nicht mehr auf der Trainerbank, sondern weit weg vom Spielgeschehen auf der Zuschauertribüne Platz.

Loslassen, durchatmen, vertrauen

«Braucht es dich da unten nicht mehr?» lautet die Frage eines mir bekannten Zuschauers. Ich erinnere mich nicht mehr an meine Antwort, aber ich weiss, dass mich die Frage beschäftigt hat, denn wer will schon nicht mehr gebraucht werden. Ich stelle mir Fragen. Wie macht sich wohl der neue Nationaltrainer? Obwohl ich ihn rekrutiert habe und weiss, dass er einen hohen Leistungsausweis hat und das Vertrauen der Athleten geniesst. Welche Leistungen wird das Team zeigen? Obwohl ich weiss, dass dieses Team bereits mehrere Medaillen für die Schweiz gewonnen hat und auch in St. Gallen zu den Favoriten gehört. «Also, durchatmen, loslassen und in die Fähigkeiten des Trainers und der Athleten vertrauen», sage ich mir. Theoretisch ganz einfach…

Nein, mich braucht es nicht mehr, mindestens nicht mehr in dieser Funktion und nicht mehr bei den Athleten, denn diese sind bestens vorbereitet und hervorragend betreut. Ich habe mich bewusst entschieden, den Trainerjob aufzugeben. Nach 7 Jahren in dieser Funktion und mit den fast immer gleichen Athleten hatte ich irgendwie das Gefühl, den Athleten alles gesagt zu haben und es an der Zeit ist, ihnen neue Impulse durch neue Trainer zu bieten. Somit verkommen mein Trainingsanzug, mein Curling-Besen und meine Curling-Schuhe zu Staubfängern. Die Zeiten auf dem Eis mit den unzähligen Trainings gehören für mich der Vergangenheit an.

Es geht um das Team

Chef Leistungssport ist ein Führungsjob und auf der Agenda stehen Punkte wie Visionen erarbeiten, Mitarbeitende rekrutieren und entwickeln, Beziehungen mit Menschen gestalten, organisieren, kommunizieren, Entscheide fällen, ermutigen, Ruhe bewahren sowie Resultate liefern. Menschen führen heisst auch in die Fähigkeiten der Menschen vertrauen. Ich war schon immer ein Verfechter von Vertrauensvorschuss. So sage ich mir: «Nimm dich nicht so wichtig, beim Führen geht es nicht um dich, sondern um das Team. Und genau das kannst du jetzt beweisen.»

Früher galt mal «Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.» Der Film Modern Times (1936) von Charlie Chaplin zeigt mit viel Humor und Slapstick wie Charlie Chaplin in seiner Rolle des Tramps (Wanderarbeiter) überwacht und kontrolliert wird und ihm jegliche Individualität verwehrt und Vertrauen entzogen wird. Verena Bentele, die ehemalige deutsche Biathletin und Skilangläuferin, die vierfache Weltmeisterin und zwölffache (!) Paralympics-Siegerin wurde, bringt es in ihrem Buch mit dem Titel «Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser» (2014) auf den Punkt: «Kontrolle ist gut, denn sie gibt uns Orientierung und hilft uns, unsere Ziele zu erreichen.

Doch erst Vertrauen befähigt uns, unsere Potenziale voll auszuschöpfen und am Ende die Goldmedaille zu gewinnen.» Weiter schreibt Verena Bentele auf ihrer Website www.verena-bentele.com: «Vertrauen trainieren bedeutet, Hindernissen und Grenzen ihren negativen Beigeschmack zu nehmen und sie als Herausforderung zu sehen, an der man wachsen kann. Der Sport war und ist für mich eine Möglichkeit, mich ganz bewusst mit meinen Grenzen auseinanderzusetzen und sie zu verschieben.» Wohl kaum jemand weiss das besser als Verena Bentele, denn sie ist von Geburt an blind.

«Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser.» –

Verena Bentele, zwölffache Paralympics-Siegerin

Wie wichtig Vertrauen in der Führungsarbeit ist, untermauert Bernhard Heusler, ehemaliger Präsident des Fussballclubs Basel und heute Inhaber des Beratungsunternehmens HWH in einem Interview bei swissleaders.org. Auf die Frage, welches Führungsverständnis ihn geprägt habe, lautete seine Antwort: «Prägend für mich war eine Begegnung mit Mohamed Salah (ehemals FC Basel und heute FC Liverpool) im Anschluss an unser Auftaktspiel der Champions League 2013 auswärts gegen Chelsea im Londoner Stadion Stamford Bridge, wo Salah in der 71. Minute das Tor zum 1:1 geschossen hat’ (in der 81. Minute glückte Marco Streller der 2:1-Siegtreffer).

Vertrauen führt zu Selbstvertrauen

Salah erklärte Heusler kurz nach dem Spiel, dass er keine Gratulation zum Tor wünsche, sondern erklären möchte, dass er sieben Mal auf das Tor geschossen hätte und davon sechsmal daneben. Den siebten Versuch hätte er nur unternommen, weil er das Vertrauen des Umfeldes, des Clubs und seiner Teamkollegen spüre.» Diese Aussage hat Heusler Gewissheit gegeben, den Weg des Vertrauens weiter zu gehen, damit die Athleten mit gesundem Selbstvertrauen Woche für Woche ihre Leistungen abrufen können.

Der Uniprofessor George Kohlrieser des IMD in Lausanne ist sich sicher, dass die Menschen ihr volles Leistungspotenzial vor allem dann ausschöpfen können, wenn sie ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen spüren. Oder sind rasche und starke Leistungsschwankungen im Spitzensport nach einem Trainerwechsel (in beide Richtungen) bloss Zufall? Wer mehr über die Führungsphilosophie von George Kohlrieser erfahren will, dem empfehle ich sein Buch «Fördern und Fordern» (2013) sowie seine Website georgekohlrieser.com.

Wie gewinne ich Vertrauen?

Im Buch «Unleashed» (2020) zeigen Anne Morriss und Frances Frei die drei wesentlichen Treiber von Vertrauen auf:

Grafik: Wie gewinne ich Vertrauen?

Dabei ist entscheidend, dass alle drei Aspekte gelebt werden – sobald einer dieser Aspekte aus dem Gleichgewicht kommt, wird das Vertrauen brüchig. Ich bin Fan von Akronymen, weil wir uns langfristig daran erinnern können. Oder wie war das früher mit GABI im Nothelferkurs? Bei diesen drei Wörtern drängt sich L.E.A. auf. Logik bedeutet, dass die Mitarbeitenden von der Fachkompetenz der Führungskraft überzeugt sind und die Entscheidungen transparent sind. Bei der Empathie geht es darum, dass die Führungsperson auf die Mitarbeitenden eingeht und deren Leistungen und Verhalten wertschätzt. Und authentisches Verhalten ist vorhanden, wenn die Mitarbeitenden das Gefühl haben, dass die Führungskraft ihr «wahres Ich» zeigt.

Interesse am Menschen haben

Was heisst das nun für das tägliche Führungsverhalten und wie kann ich Vertrauen aufbauen? In meiner Funktion als Chef Leistungssport wollte ich zuerst einmal die Menschen in meinem Team verstehen, und zwar nicht nur deren Fachkompetenzen, sondern vor allem, wie sie sich verhalten und für welche Werte sie einstehen. Dies bedeutet, dass ich mir Zeit nehmen muss und nicht in das operative Tagesgeschäft «flüchte» («sorry, ich habe gerade keine Zeit…»).

Ich muss echtes Interesse am Menschen zeigen, Fragen stellen, zuhören, im Hier und Jetzt sein (und mit den Gedanken nicht abschweifen) und getreu dem Motto «It’s hard to listen when you are talking» weniger als der Gesprächspartner sprechen. Gleichzeitig versuche ich den Menschen Orientierung zu geben, in dem ich meine Erwartungen teile und auch deren Erwartungen erfahren will. Weder als Chef Leistungssport noch sonst als Chef muss ich den Superhelden (Nichtwissen ist OK) spielen, sondern es ist meine Aufgabe, die Rahmenbedingungen zu schaffen, dass sich die Mitarbeitenden entwickeln und alle ihren Beitrag zum gemeinsamen Erfolg leisten.

Echte Auseinandersetzung

Um das Vertrauen des Teams zu gewinnen, empfehle ich dringend, zu den eigenen Fehlern zu stehen, daraus zu lernen und zu versuchen, es das nächste Mal besser zu machen. Dieses Verhalten wirkt einerseits sympathisch und sorgt für persönliche Entlastung, andererseits führt es dazu, dass die Mitarbeitenden mutiger werden, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten aufbauen und kein Aufwand mehr betrieben wird, um von Fehlern abzulenken. Nachdem ein Fehler passiert ist, wird leider zu selten die Frage gestellt «Wie machen wir es das nächste Mal besser?». Oft heisst es «Warum ist das passiert und wer trägt die Schuld?»

Und dann ist da noch die Fähigkeit der Verschwiegenheit. Wer hat schon jemals auf die Frage «Darf ich dir etwas anvertrauen und dich bitten, es niemandem weiter zu erzählen?» mit NEIN geantwortet? Um zu vertrauen, braucht es 100 prozentige Sicherheit, dass vertrauliche Informationen auch geheim bleiben. Leider wird in vielen Organisationen mit Informationen gespielt und so das Vertrauen verspielt.

Vertrauen zu gewinnen und aufrecht zu erhalten ist ein Marathon. Vertrauen verlieren passiert in einem Sprint. Um Vertrauen zurückzugewinnen steht ein Triathlon (Langdistanz) auf der Agenda. Ziemlich sicher ist bei fehlendem Vertrauen einer der drei Faktoren Logik, Empathie oder Authentizität aus dem Gleichgewicht.

«Der beste Weg, herauszufinden, ob man jemandem vertrauen kann, ist der Person zu vertrauen.»

Ernest Hemingway, Schriftsteller

Wie soll ich Menschen führen?

Diese Frage kann ich so nicht beantworten und ist abhängig von vielen Faktoren, wie unter anderem der eigenen Persönlichkeit, dem beruflichen Umfeld, den zu führenden Menschen, den zu erreichenden Zielen, den gestellten Erwartungen, den konkreten Aufgaben sowie den Aktualitäten. Oder soll sich eine Führungsperson immer gleich verhalten, egal ob im Sport oder im sozialen Bereich? Egal ob das Unternehmen in einer Krise ist oder Rekordergebnisse erzielt? Egal ob Mitarbeitende hoch qualifiziert oder nicht geeignet sind?

Nein, es gibt kein Einheitsrezept und es gibt nicht DAS erfolgreiche Führungsverhalten, denn viele Wege führen nach Rom (ich weiss, aber noch mehr daran vorbei). Entscheidend ist, dass man sein Führungsverhalten immer wieder reflektiert und sein Führungsverständnis weiterentwickelt. Nicole Büchler hat kurz vor ihrem Rücktritt, also noch aus Sicht der Athletin, im Rahmen der DTL Trainerausbildung in Magglingen folgende Aussage gemacht: «Ein Top-Coach wächst mit dem Athleten mit.»

Zunächst sich selber führen

Wer andere Menschen führen will, muss sich selber führen können. Am besten starten wir beim «Reason Why». Warum will ich Menschen führen? Was verstehe ich unter Führung? An welchen Werten orientiere ich mich? Was bereitet mir Freude? Was gelingt mir gut bei der Führung? In welchen Bereichen will ich mich verbessern? Welche Führungspersonen inspirieren mich und weshalb? Wie kommuniziere ich? Welche Führungstools nutze ich? Wie wirke ich auf andere Menschen? Fragen über Fragen, welche helfen, das Führungsverhalten zu reflektieren und das Führungsverständnis zu schärfen.

Mein persönliches Führungsverständnis hat viel mit den Besonderheiten des Curlingsports zu tun. Es ist den Trainern während dem Match nicht erlaubt, aktiv oder passiv zu coachen. Die Interaktionen mit den Athleten während dem Match beschränken sich auf 5 Minuten Pause (davon sind die Athleten etwa 3 Minuten auf der Toilette) und einem einminütigen Time out, welches nur auf Verlangen der Athleten erfolgt. Das heisst, der Einfluss des Trainers während dem Wettkampf ist sehr gering. Und dies führt mich zur Überzeugung, dass der Trainer das Team so auf den Wettkampf vorbereiten muss, dass das Team auch in stressigen Situationen entscheidet und gemeinsam Lösungen findet.

Ich versuche diese Philosophie aus dem Spitzensport in die Wirtschaftswelt zu transferieren. Allzu oft höre ich von Führungskräften, dass es ohne sie nicht läuft und wenn sie mal abwesend sind, permanent telefonisch von den Mitarbeitenden angerufen werden. Darauf begegne ich mit der Frage «Wie könntest du dein Führungsverhalten anpassen, dass sich diese für dich offensichtlich unbefriedigende Situation ändert und dein Team auch ohne dich funktioniert?».

Übrigens. Ich hatte noch nie eine so entspannte Zeit an einem internationalen Anlass wie an der EM 2017 in St. Gallen. Das Team hat mit 8 Siegen in Serie einen neuen Rekord aufgestellt und schlussendlich Bronze gewonnen. Und ich habe an Überzeugung gewonnen, dass das Team auch ohne mich funktioniert. Das ist ein richtig gutes Gefühl. Loslassen und Vertrauen.

«Menschenführung ist, an die Hand nehmen ohne festzuhalten. Und loslassen ohne fallen zu lassen»

Wilma Eudenbach, deutsche Publizistin

P.S. Im Rahmen der Führungskurse der Trainerbildung Schweiz teilen wir unser Knowhow zum Thema Leadership. Es geht um das Rollenverständnis der Trainerinnen und Trainer als Führungspersonen, das persönliche Führungsverständnis zu schärfen und noch mehr Freude und Sicherheit an der Führungsrolle zu erhalten. Dabei profitieren die Teilnehmenden von spannenden und erfahrenen Führungspersönlichkeiten aus der Welt des Sports und der Wirtschaft.

Gerne empfehle ich an dieser Stelle den «Leadership Talk» der DFB-Akademie, welcher während dem Lockdown im März 2020 unter dem Hashtag #everydayleadership eine Podcast-Serie lanciert hat. Es geht um Leadership, aber auch um aktuelle Themen wie Umgang mit Unsicherheiten, Zuversicht und Motivation. Illustre Persönlichkeiten wie Anselm Grün (Benediktiner und Führungstrainer), Alondra de la Parra (die vielleicht coolste Dirigentin der Welt), Timo Boll (Tischtennis), Manuel Neuer (FC Bayern) oder Günther Jauch (Fernsehmoderator) sprechen über Führung und geben spannende Einblicke in ihre Führungswelt. Sehr empfehlen kann ich das Interview mit Uli Hoeness (Mister FC Bayern): Zum Thema Vertrauen macht er die Aussage, dass er sich fast in jeder Situation auf sein Bauchgefühl verlassen konnte und die Trefferquote sehr hoch sei, Gleichzeitig erklärt er, warum diese Quote während seiner Gefangenschaft jedoch stark gelitten habe.

«Führung heisst für mich, sich erstmals selber in die richtige Richtung zu lenken.»

Jürgen Klopp, Podcast #everydayleadership der DFB-Akademie

Quellen, Literatur, Materialien