Sportpsychologie

Nur «Guggenmusig» ist auf Dauer ungesund

Das Thema «Energie – tanken, speichern und nutzen» der Magglinger Trainertagung 2023 hatte auch mit Musik zu tun: Ein bisschen «Guggenmusig» kann zwischenzeitlich Platz haben, längerfristig sollten aber die harmonischen Töne dominieren. Was Musik und Energiebereitstellung miteinander zu tun haben und welche Konsequenzen das für Trainerinnen und Trainer und ihre Athlet/-innen hat, beschreiben wir in diesem Blog.

Guggenmusik beim nächtlichen Spiel
Guggenmusik ist durchaus reizvoll. An das Filigrane eines Sinfonieorchesters kommt sie selten heran. Foto: Uwe Conrad auf Unsplash

Blog-Beiträge der Trainerbildung Schweiz (TBS)

Die Trainerbildung Schweiz (TBS) publiziert an dieser Stelle regelmässig spannende Blog-Beiträge sowie Tipps und Tricks für Training und Wettkampf.

Text: Philipp Schütz, Verantwortlicher Berufstrainerlehrgang Trainerbildung Schweiz

Zugegeben, ein «Guggenmusig»-Konzert hat durchaus seinen Charme und sorgt zuweilen für bemerkenswerten Musikgenuss. Doch – man darf das hier ganz unvoreingenommen schreiben – kann man eine «Guggenmusig» selten bis nie mit einem Sinfonieorchester vergleichen. Die Abstimmung der Register, das Arrangement der Partituren oder die virtuose Komposition machen ein Sinfonieorchester zu einer besonders feinen Gesamterscheinung.

Ähnlich sorgfältig ist das Gleichgewicht des menschlichen Energiehaushalts aufgebaut. Drei Untersysteme sorgen für eine dauerhafte Energiebereitstellung und damit für ein stabiles Wohlbefinden: Wir sprechen hier von körperlicher, emotionaler und kognitiver Energie. Kurzfristig kann einer der drei Bereiche reduziert funktionieren, längerfristig braucht es aber ein solides Gleichgewicht. Die Magglinger Trainertagung 2023 ist dieser Thematik auf den Grund gegangen.

Die drei Stellhebel der menschlichen Energie: Körper, Emotion und Kognition (Foto: Philipp Wäffler)
Die drei Stellhebel der menschlichen Energie: Körper, Emotion und Kognition (Foto: Philipp Wäffler)

Stellhebel Körper: Schlaf und Ernährung sind matchentscheidend

Die wirkungsvollsten Regenerationsmassnahmen sind mit Abstand Schlaf und Ernährung. «Wenn Athletinnen und Athleten, aber auch Trainerinnen und Trainer während Wochen oder gar Monaten schlecht schlafen, braucht es professionelle Massnahmen», erklärt Dr. Albrecht Vorster vom Swiss Sleep House in Bern. Eine Umfrage unter potenziellen Olympia-Teilnehmenden zeigte: 28 Prozent der befragten Athletinnen und Athleten sind mit ihrem Schlaf unzufrieden. Sechs bis acht Prozent gaben an, sogar täglich Schlafprobleme zu haben.

«Schlaf hat eine leistungsoptimierende Funktion», betont Voser. Bei Studien im Sport wurden durch verbessertes Schlafverhalten Steigerungen von drei bis fünf Prozent registriert. Schlaf sei im wahrsten Sinne ein Wellness-Programm für Körper und Geist, wie es der Deutsche nennt. Während des Schlafens verknüpften sich Nervenzellen im Gehirn. Lerninhalte würden gefestigt und motorische Abläufe gespeichert. Vorster: «Der Begriff <etwas im Schlaf beherrschen> kommt nicht von ungefähr.»

Wer zu wenig schläft, habe ein deutlich höheres Verletzungsrisiko. Spitzensportler/-innen benötigten eine Stunde mehr Schlaf pro Nacht als der Durchschnitt. Doch gerade sie hätten bei der Vorgabe, regelmässig acht bis neun Stunden zu schlafen, erschwerte Voraussetzungen. Denn ihre Schlafroutinen wechselten oft: «Reisen in andere Zeitzonen, eine häufig wechselnde Schlafumgebung, Aufregung vor und nach Wettkämpfen oder ein intensives abendliches Training seien Faktoren für einen schlechten Schlaf», erklärt Vorster und gibt an, was zu einer besseren Schlafqualität führen kann: 

  • Im Zweifelsfall das Training zugunsten von mehr Schlaf reduzieren
  • Trainings am späteren Abend wenn möglich verhindern
  • Schlafroutinen erarbeiten
  • Ein Schlafprotokoll führen und daraus Muster erkennen
  • Am Nachmittag und Abend auf Koffein verzichten
  • Auf Reisen Augenklappe, Gehörschutz und eigenes Kissen mitbringen
  • Mit kurzen Powernaps (max. 15 Minuten) verpassten Schlaf tagsüber «nachholen»

Wenn eine Schlafstörung länger anhalte, benötige man auf jeden Fall Unterstützung. «Man muss Schlafprobleme ernst nehmen, abklären und behandeln lassen», empfiehlt Vorster.

«Let her sleep, for when she wakes she will move mountains. Let her sleep, for when she wakes she will shake the world»

Napoleon Bonaparte
Aufwand-vs.-Ertrag-Schema von Regenerationsmassnahmen (Trösch 2017)
Aufwand-vs.-Ertrag-Schema von Regenerationsmassnahmen. (Trösch 2017)

Neben dem Schlaf ist die Ernährung der zweite zentrale Baustein der menschlichen Energie. Dr. Joëlle Flück, Präsidentin und Geschäftsführerin der Swiss Sports Nutrition Society, empfiehlt drei Grundsätze konsequent einzuhalten:

  • Die Proteinzufuhr sowie deren -verteilung optimieren. Das ist unabhängig von der Sportart ein relevanter Faktor, welcher sehr häufig vernachlässigt wird (z.B. im Ausdauersport). Empfohlen sind 1,6 bis 2,2 g Protein pro Kilogramm Körpermasse, verteilt auf 5 bis 6 Portionen während dem Tag (ca. 3 Stunden dazwischen).
  • Die Kohlenhydratzufuhr auf einen Trainingsload sowie die Trainingsinhalte abstimmen. Man sieht in den individuellen Beratungen immer wieder Athletinnen und Athleten, welche jeden Tag die gleiche Routine im Sinne der Energiezufuhr haben, unabhängig davon, wie viel oder intensiv sie trainieren. In gewissen Fällen liegt die Energiezufuhr an Ruhetagen gar massiv höher, als die Zufuhr an intensiven Trainingstagen.
  • Supplemente strategisch so einsetzen, dass in gewissen Trainings- oder Wettkampfphasen die Erholungs- oder Leistungsfähigkeit optimiert werden kann.

In bestimmten Sportarten ist zudem das relative Energiedefizit-Syndrom «RED-S» eine grosse Herausforderung. «Es gibt viele Anzeichen, die auf ein relatives Energiedefizit hindeuten können, aber nicht zwingend müssen», sagt Flück. «Ein grosser Gewichtsverlust in wenigen Wochen, das Ausbleiben der Menstruation bei Athletinnen oder die Verminderung der Knochendichte sind einige davon.» Auch Müdigkeit, eine hohe Verletzungs- oder Infektanfälligkeit oder auch Leistungsstagnation und Ausbleiben von Trainingsanpassungen können darauf hindeuten.

Bei solchen Anzeichen empfiehlt die Swiss Sports Nutrition Society, ein gutes Netzwerk aus Expertinnen und Experten der Sportmedizin, Sporternährung, Sportphysiotherapie und Sportpsychologie aufzubauen. Das Absolvieren der jährlichen sportmedizinischen Untersuchung, bei Athletinnen eine regelmässige gynäkologische Untersuchung sowie eine Beurteilung und Optimierung der Nährstoffzufuhr, angepasst auf die individuellen Ziele und Trainingsinhalte, sind weitere Massnahmen, die der Prävention helfen können.

Stellhebel Emotion: Regulation als A und O

Emotionen und sportliche Leistungen hängen eng zusammen. Grundsätzlich gilt: angenehme Emotionen verbessern die Leistung, unangenehme verschlechtern sie. Letztere können nämlich regelrechte Energiefresser sein, sowohl individuell wie kollektiv. So ist gemäss Dr. Vanessa Wergin zu beobachten, dass sogenannte «Teameinbrüche» vor allem in folgenden kritischen Situationen auftreten: Anhäufung von unnötigen Fehlern, Leistungskollaps von Schlüsselspieler/-innen, bei Erfolgen des Gegners oder ungünstigen Schiedsrichterentscheiden. Als Folge können emotionale Ansteckung, Ängste, Wut, Druck, Verunsicherung, mangelnde Rechenschaftspflicht, Verzweiflung, vorsichtiges Spiel, Hektik, eingeschränkte Kommunikation und Beschuldigen die Leistung eines Teams stark beeinträchtigen.

Was sind nun hilfreiche Regulationsstrategien im Umgang mit Emotionen?

Regulation von Emotionen
Die Regulation von Emotionen kann an ALLEN Punkten ansetzen! (nach Gross, 1998/2002)

Was bedeutet das für mich als Trainer/-in im Umgang mit meinen Athlet/-innen?

Technische/taktische Ebene

  • Tipps geben (technisches oder taktisches Feedback)
  • Timeouts nehmen
  • Indirekte Handlungen vornehmen (z.B. Sportler/-in in Entscheidungen unterstützen)

Kognitive Ebene

  • Ablenkung herbeiführen
  • Umbewertung der Situation einfordern
  • Ziele setzen (motivieren)
  • Belohnung vereinbaren

Emotionale Ebene

  • Sportler/-in Emotionen bewusst machen
  • Sportler/-in aufmuntern & positive Emotion fördern / fordern
  • Eigene Emotionen verändern emotionale Ansteckung
  • Nonverbale Emotionsregulation (High-Five) herbeiführen
  • Positives Feedback geben
  • Humor: Sportler/-in zum Lachen bringen

Dabei kann es auch spannend sein, den Athlet/-innen folgende Fragen zu stellen: Was brauchst du im Umgang mit deinen Emotionen von deinen Mitspielenden und was brauchst du nicht? Welche Art von Regulation tut dir gut? Was kann das Team in schwierigen Spielsituationen für jeden einzelnen tun?


«Verschwende keine Energie, um Dinge zu verändern, die du nicht beeinflussen kannst. Verändere was du kannst!»

Kevin Lötscher

Auch Kevin Lötscher, ehemaliger Profi-Eishockeysportler, betont, wie wichtig die Regulation der eigenen Emotionen ist. Nach einem schweren Verkehrsunfall war er gezwungen, sich selbst auf plötzliche und radikale Art und Weise zu ändern. Das hat dem Walliser die Gelegenheit gegeben, Ruhe in sich zu finden, sich selber zu reflektieren und seine Prioritäten neu zu definieren. «Mir wurde klar, was und wer in meinem Leben wirklich wichtig war, und ich habe viel investiert, um meine Träume wieder leben zu dürfen», sagt Lötscher. «Ich habe erkannt, dass der kritische Ausgangspunkt darin besteht, für sich selbst zu sorgen. Wenn du soweit bist, dann kannst du einen Schritt weitergehen, dich um Freunde, Familie, Fremde und unseren wundervollen Planeten kümmern. Nur durch eine Verminderung unserer Selbsterwartung und der Absicht, das zu schätzen, was wir bereits haben, können wir einen glücklichen, gesunden Geist kultivieren». Dies ergebe eine solide Grundlage und die Fähigkeit, tatsächlich Veränderungen und Auswirkungen zu bewirken.


Stellhebel Kognition: Entscheidungskompetenz und Fokus

Andy Koch, ehemaliger Profi-Eishockeyschiedsrichter, hat sich damit auseinandergesetzt, was es braucht, um richtige Entscheide zu treffen. «Noch nie konnten wir so viel entscheiden wie heute», sagt Koch. «Die vielen Möglichkeiten machen uns jedoch das Leben schwer. Wie können wir trotzdem die richtige Wahl treffen?»

«Ich denke, also bin ich»

«Im 16. Jahrhundert schuf René Descartes diesen berühmten Spruch. Bis weit hinein in die Neuzeit war das in Stein gemeisselt und allen klar: Intuition ist ein schlechter Ratgeber», so Koch. «Das einzig Wahre sind wohlüberlegte rationale Entscheidungen. Das galt bis 1982. Dann kam Elliot. Elliot war Patient des portugiesischen Neurologen Antonio Damasio. Einige Monate zuvor wurde Elliot ein Tumor aus dem Gehirn operiert. Der Tumor war klein, doch die Folgen waren tragisch: Aus dem tüchtigen Mann war ein chronischer Zögerer und Zauderer geworden. Er hing stundenlang am Autoradio, weil er sich nicht für einen Sender entscheiden konnte. Er konnte kein Wort schreiben, wenn ein grüner und ein blauer Stift zur Wahl standen. Elliot war alltagsuntauglich geworden. Denken konnte er noch bestens, sein Intelligenzquotient war unverändert hoch. Nur sich entscheiden, das konnte er nicht mehr», sagt Koch.

Damasio habe eine neue Wahrheit ans Licht gebracht: Ohne Gefühl sei der Verstand hilflos. «In den vielen Stunden des Gesprächs mit Elliot sah ich nie den Hauch einer Emotion», erinnerte sich Damasio, «keine Traurigkeit, keine Ungeduld, keine Frustration.» Elliot konnte sich nicht mehr entscheiden, weil sich alles gleich anfühlte. Damasio suchte nach ähnlichen Fällen und fand Menschen, die all ihr Fühlen verloren hatten – und damit ihre Fähigkeit zu entscheiden. Ergo immer mit dem Bauch entscheiden? «Nein», sagt Koch, «denn auf den Bauch allein ist ebenfalls kein Verlass. Es gilt, für beide optimale Voraussetzungen zu schaffen. Lassen Sie sich auf Unbekanntes ein, probieren Sie neue Dinge aus und seien Sie kreativ! Haben Sie jedoch etwas gefunden, das zu Ihnen und Ihrem Umfeld passt, institutionalisieren Sie es. Schaffen Sie eine Kultur».

Definition: «Fokus ist die Fähigkeit, sich nur auf relevante Reize zu konzentrieren und alles andere auszublenden.»

Andreas Guler, Major der Swiss Parawings Company der Schweizer Armee, seinerseits betont die Wichtigkeit des Fokussierens im Leistungs- und Spitzensport. Dabei kämen Ritualen eine besondere Bedeutung zu. Im Zielspringen seien dies sechs chronologische Schritte:

  • am Boden: Vorbereitung / Drill / Visualisierung
  • im Steigflug: Emotions-/Gedankenkontrolle – Blackbox
  • vor dem Absprung: Rituale / leichter Fokus (tiefer Puls)
  • nach dem Absprung: unmittelbare Schirmöffnung
  • während des Flugs: je tiefer, desto höher der Fokus
  • ab 10 Metern über Grund: Distraction Control / Max-Fokus (3 Sekunden bis Matte)

Entscheidungs- und Konzentrationstraining kann übrigens auch mit Visualisierungsübungen verstärkt werden. Nachfolgend zwei Übungen aus der J+S Broschüre «Psyche» für die praktische Umsetzung mit Athletinnen und Athleten:


«Remember, Anakin. Your focus determines your reality.»

Qui-Gon in Star Wars

Wir haben nun anhand der Inputs an der Magglinger Trainertagung 2023 erläutert, mit welchen Instrumenten Trainerinnen und Trainer ihre eigenen «Energie»-Stellhebel und diejenigen ihrer Athletinnen und Athleten betätigen können. Nun liegt es an jeder und jedem einzelnen, darin ein ausgewogenes Gleichgewicht zu finden. Denn Energiemanagement heisst auch zu wissen, wann welcher Bereich besondere Aufmerksamkeit verlangt.

Folgende Reflexionsfragen können diese Aufgabe unterstützen:

  • Welche Symptome sind bei mir selbst und bei meinen Athleten/-innen ersichtlich?
  • Schaue ich genügend sorgfältig hin, um eigene und fremde Symptome wahrzunehmen?
  • Frage ich bei meinen Athleten/-innen regelmässig nach?
  • Nehme ich mir als Trainer/-in genügend Auszeiten, um mich selbst zu reflektieren?
  • Kenne ich Achtsamkeitsübungen, um meine Bedürfnisse zu spüren?
  • Verfüge ich über genügend Werkzeuge, um die Symptome zu behandeln?
  • Kann ich auf eigene Ressourcen zurückgreifen, um das Energiegleichgewicht zu halten?
  • Wenn nicht, gibt es externe Ressourcen, die ich dafür verwenden kann?

«Be the Melody in the Symphony of Your Life»

Jonathan Lockwood Huie

Zusammenfassend lässt sich sagen: Kurzfristig dürfen wir uns sehr wohl einige «Guggenmusig»-Konzerte gönnen, auch wenn dabei nicht immer alle Töne aufeinander abgestimmt sind. Längerfristig sollten wir aber darauf achten, dass unser Energiegleichgewicht eher einem «Sinfonie»-Konzert gleicht, in dem die Bereiche «Körper», «Herz» und «Kopf» im Einklang funktionieren. Für uns selbst, aber auch zum nachhaltigen Schutz der Gesundheit unserer Athletinnen und Athleten.