Keine Schnellschüsse bei Talentselektionen
Eine dynamische Selektion ermöglicht das Beobachten und Ausbilden von Nachwuchsathleten und -athletinnen über einen längeren Zeitraum. «Dynamisch» bedeutet für den Selektionsprozess, dass dieser aus mehreren Stufen besteht. So können junge Talente und ihre Leistung über einen bestimmten Zeitraum beobachtet und eingeschätzt werden. Die Ziele: eine breite Förderung, faire Selektionen und kein Verlust von Talenten aufgrund der Beeinflussung der aktuellen Leistung oder des biologischen Entwicklungsstandes.
Autorinnen: Rahel Heynen und Mirjam Hintermann, Eidg. Hochschule für Sport Magglingen EHSM
Sportartspezifische Tests und Trainingslager finden regelmässig statt, wobei die individuelle Entwicklung der einzelnen Nachwuchsathleten und -athletinnen im Zentrum steht.
In einem vierjährigen Projekt hat swiss unihockey in Zusammenarbeit mit der Eidgenössischen Hochschule für Sport Magglingen EHSM die dynamische Selektion implementiert. Dieser Beitrag liefert den Startschuss zu einer dreiteiligen Serie, in welcher dieses Projekt beleuchtet wird.
Inhalt
- Dynamische Selektion am Beispiel swiss unihockey
- Paradigmawechsel zum Vorteil von Talenten
- Beispiel der U17: das 3-stufige Modell für die Selektion
- Vorteile einer dynamischen Selektion
- Fehlerhafte Nachwuchsselektionen bei Verbänden und Vereinen
- Potenzielle Talentenförderung nach Swiss Olympic
- Bessere Leistung durch optimale physische Voraussetzungen
- Der Schlüssel zum Erfolg
Dynamische Selektion am Beispiel swiss unihockey
In vielen Sportverbänden finden Selektionen anhand aktueller Leistungen auf dem Spielfeld statt oder sie erfolgen aufgrund von Leistungstests, die wenig funktionell und sportartspezifisch sind. Für Athleten und Athletinnen entsteht dabei viel Druck, da der erste Eindruck bei der Beobachtung oder Beurteilung zählt (Johnston & Baker, 2020). Dieser Ansatz kann aus heutiger Sicht als falsch betrachtet werden, denn er führt langfristig nicht zu einer zielführenden Selektion.
Auch bei den physischen Leistungsfaktoren, die für eine gute Leistung auf dem Spielfeld eine zentrale Rolle spielen, lässt sich beobachten, dass jeweils der Tag X als Mass der Dinge gilt. Doch es ist wichtig, dass diese Leistungsfaktoren sportartspezifisch und in regelmässigen Abständen getestet werden.
Auch bei swiss unihockey bezogen sich die nationalen Selektionskriterien im physischen Bereich bis vor Kurzem mehrheitlich auf eine Ist-Analyse und nicht auf eine langfristige Entwicklung und Erkennung von zukünftigen Nationalspielern und -innen. Folgende Problematiken lagen vor:
- Die Testbatterie war für alle nationalen Selektionen von U17 bis A-Nationalmannschaft gleich.
- Es gab keine sportartspezifischen Tests, präventive Screenings sowie Verletzungsanamnese.
- Goalies sowie Spielerinnen und Spieler absolvierten die gleichen Tests.
- Die Spielerinnen und Spieler erhielten keine individuelle Rückmeldung für eine optimale Leistungssteigerung.
- Die physische Leistung wurde jeweils zu einem fixen Zeitpunkt im Jahr gemessen.
Paradigmawechsel zum Vorteil von Talenten
Um den erwähnten Problematiken entgegen zu wirken hat swiss unihockey mithilfe von Swiss Olympic ein vierjähriges wissenschaftliches Projekt in Zusammenarbeit mit der Eidgenössischen Hochschule für Sport Magglingen EHSM lanciert. Dazu hat swiss unihockey ihren Selektionsverlauf im Nachwuchs durch eine dynamische Selektion ersetzt, wofür folgende Massnahmen getroffen wurden:
- Ganzheitliches Screening: Implementierung des swiss unihockey basic screening (SUBS) in die nationale Selektion. Dieses beinhaltet eine vielseitige Testbatterie, welche ein präventives Screening durchführt sowie physische Leistungsfaktoren wie z.B. Schnelligkeit, Sprungkraft und Rumpfstabilität sportartspezifisch misst. Das Screening erkennt Defizite und vor allem vorliegende Asymmetrien frühzeitig.
- Erschaffen von Trainingscamps: Spielerinnen und Spieler können sich mit Gleichaltrigen in Trainingslagern messen und haben die Möglichkeit, sich vielseitig zu zeigen.
- Individuelles Feedback: Die selektionierten Spieler und Spielerinnen erhalten anhand ihrer Testresultate ein individuelles Feedback zu ihrer physischen Verfassung. Sie werden somit dabei unterstützt, ihr individuelles physisches Potenzial auszuschöpfen.
- Individuelle Entwicklung: Die Testwerte jedes Spielers und jeder Spielerin können mit den Kaderwerten verglichen und die individuelle Entwicklung im Vergleich zum jeweiligen Vortest aufgezeigt werden.
4-Stufen-Modell der nationalen Selektion am Beispiel der U17
Vorteile einer dynamischen Selektion
- Die jungen Spieler und Spielerinnen werden über eine längere Zeit ausbildet und entwickelt.
- Das individuelle Potenzial jedes Nachwuchsspielers und jeder -spielerin wird besser ausgeschöpft und der individuelle Entwicklungsprozess steht im Mittelpunkt. Qualitativ besser ausgebildete Spieler und Spielerinnen führen zu einer besseren Teamleistung.
- Der Spieler oder die Spielerin hat mehr Zeit für die sportliche und persönliche Entwicklung, weil eine mögliche Selektion weniger auf einzelnen Leistungen basiert.
- Eine breite Förderung von Nachwuchsspielern und -spielerinnen findet statt und es gehen weniger Talente verloren.
- Eine ganzheitliche Ausbildung der Spieler oder der Spielerin findet statt. Talente, welche noch grosses Potenzial bei den physischen Leistungsfaktoren haben, können auch diesen Bereich ausschöpfen.
- Die Förderung findet nachhaltig statt. Eine stufenübergreifende Struktur und Leitlinien sind vorhanden, wodurch die Sportart professionalisiert wird.
- Durch das regelmässige Screening findet eine Verletzungsprophylaxe statt. Auf erkannte Probleme kann frühzeitig eingegangen werden.
Fehlerhafte Nachwuchsselektionen bei Verbänden und Vereinen
Die Talentidentifikation und -selektion stellt für Verbände und Vereine bei der Suche nach Nachwuchsathleten und -athletinnen sowie bei der Erstellung von nationalen Nachwuchsteams eine grosse Herausforderung dar. Viele Sportverbände wählen junge Athleten und Athletinnen auf der Grundlage aktueller Wettkampfergebnisse und physischen Leistungstests aus und nicht anhand ihres Entwicklungspotenzials.
Baker et al., 2017 «Die Entwicklung von Nachwuchsathleten ist ein langfristiger Prozess.»
Verschiedene Faktoren beeinflussen die aktuelle Leistung, wie z.B. die Tagesform, der biologische Entwicklungszustand, der relative Alterseffekt (RAE), die Psyche, das Umfeld, Stress oder die Motivation (Fuchslocher et al., 2016). Viele Verbände und Vereine berücksichtigen diese Faktoren bei den Selektionsauswahlverfahren von jungen Talenten zu wenig.
So wird nicht nach Talent oder potenziellem Talent ausgewählt, sondern danach, wer an einem bestimmten Tag oder in einem Spiel die beste Leistung erbringt (Baker et al., 2017; Romann, 2020). Bei swiss unihockey werden die Spieler und Spielerinnen vor jedem Leistungstest gefragt, wie sie sich fühlen. Sie beurteilen ihr Wohlbefinden auf einer Skala von eins bis sechs (1= schlecht, 2= unwohl, 3= nervös, 4= ok, 5= gut, 6= fit). Dieser Wert hilft, die Testwerte differenzierter zu betrachten.
Potenzielle Talentenförderung nach Swiss Olympic
Die Einflussfaktoren auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sind sehr komplex und vielfältig, weshalb langfristige Prognosen für zukünftige Nationalathleten und -athletinnen vor und während der Pubertät kaum möglich sind. Swiss Olympic erkannte bereits 2016 die Wichtigkeit einer langfristigen Talentförderung, hat diese Problematik in den Fokus gerückt und das Selektionsinstrument PISTE (Prognostische Integrative Systematische Trainer-Einschätzung) wurde erarbeitet sowie das Manual «Talentidentifikation und -selektion» (pdf) erstellt.
Die Philosophie der Talentidentifikation und -selektion lautet: «Nicht die aktuell Besten, sondern die Geeignetsten». Entwicklungsprozesse verlaufen in den wenigsten Fällen linear, deshalb ist es von Vorteil, die Leistungsentwicklung über einen definierten Zeitraum mehrmals fortlaufend zu beurteilen. Die folgende Grafik fasst den Selektionsprozess zusammen (Fuchslocher et al., 2016).
Im Sport spielen die physischen Leistungsfaktoren eine immer wichtigere Rolle, einerseits für eine bessere sportartspezifische Leistung und andererseits als Verletzungsprophylaxe. Deshalb ist es wichtig, auch den physischen Leistungsfaktoren mehr Aufmerksamkeit zu schenken, sie sportartspezifisch sowie regelmässig zu testen und bei Selektionsprozessen zu berücksichtigen.
Künftige Nationalspielerinnen und -spieler erhalten jeweils ein regelmässiges Feedback zu ihren aktuellen Leistungen und erkennen dadurch, wie sie sich auf ihrem Niveau entwickelt haben und wo sie sich noch verbessern können. Dies hält die Motivation der Spieler und Spielerinnen hoch und reduziert Drop -Outs.
Johnston & Baker, 2020 «Nachwuchsathleten brauchen Feedback zu ihrer Leistung, um sich zu verbessern.»
Der Schlüssel zum Erfolg
Fazit: Für Verbände und Vereine ist es empfehlenswert, auf eine langfristige und dynamische Selektion zu setzen. Eine längere Beobachtung und Ausbildung von Nachwuchsathleten und -athletinnen sind der Schlüssel zum Erfolg. Auf diesem Weg gehen weniger Talente verloren.
Swiss unihockey geht als Beispiel voran und zeigt mit dem Projekt «SUBS – swiss unihockey basic screening» was möglich ist. Die Frage, wie und aufgrund welcher Faktoren die Nachwuchsspieler und -spielerinnen von swiss unihockey langfristig ausgebildet und gefördert werden, durchleuchtet der nächste Beitrag im Verlauf des Jahres 2024.
Literatur
- Baker, J., Schorer, J., & Wattie, N. (2017). Compromising Talent: Issues in Identifying and Selecting Talent in Sport. Quest, 70, 1-16. https://doi.org/10.1080/00336297.2017.1333438
- Fuchslocher, J., Romann, M., Birrer, D., Baer, Ch., Müller, L., Pürro, D., Egli, D., Zuber, C., Moser, H., Gertschen, R., Rüdisüli-Laurent, R., & Heyer, L.. (2016). Manual Talentidentifikation und -selektion. Bundesamt für Sport BASPO; Swiss Olympic.
- Johnston, K., & Baker, J. (2020). Waste Reduction Strategies: Factors Affecting Talent Wastage and the Efficacy of Talent Selection in Sport. Frontiers in Psychology, 10. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2019.02925
- Romann, M. (2020). Improving talent identification through analysis and consideration of biological and relative age. http://dx.doi.org/10.13140/RG.2.2.13062.80961