Biologisches Alter und Entwicklungsstand
Während der Pubertät kommt es zu grossen Unterschieden im biologischen Entwicklungstand (BES) der Athleten, der durch den Vergleich des chronologischen mit dem biologischen Alter bestimmt wird. Für die Talentselektion spielt der biologische Entwicklungsstand ebenfalls eine grosse Rolle.
Text: Dennis Lüdin; Marie Javet; Michael Romann, Trainingswissenschaft, Eidg. Hochschule für Sport EHSM Magglingen
Verschiedene physische Voraussetzungen zwischen jungen Sportlern lassen sich neben dem unterschiedlichen relativen Alter innerhalb einer Alterskategorie vor allem durch Unterschiede im biologischen Alter erklären. Zusätzlich zum RA kann es bei den Spielern in der Phase der Pubertät zu massiven Unterschieden im biologischen Entwicklungsstand (BES) kommen. Durch den Vergleich des chronologischen mit dem biologischen Alter lässt sich der biologische Entwicklungsstand (BES) bestimmen.
Das momentane BA und somit eine Verteilung der Entwicklungsstände innerhalb von Gruppen zu analysieren ist um einiges aufwändiger und komplizierter als eine Analyse des RA. Anders als die Auswertung der Geburtsquartale, ist das BA nicht einfach eine Zahl, die sich jederzeit ablesen lässt. Viel mehr lässt sich die Klassifizierung des BA mittels verschiedener Ansätze vornehmen. So kann beispielsweise das Skelettalter (SA) oder der sexuelle oder anthropometrische Entwicklungsstand zur Bestimmung verwendet werden. Das SA gilt dabei als bester Indikator des BA, wenn es um das Einordnen der aktuellen körperlichen Leistung geht (Tanner, Healy, Goldstein, & Cameron, 2001). Für die Bestimmung des SA wiederum wurden in der Vergangenheit unterschiedliche Methoden entwickelt und eingeführt (Malina et al., 2004; Mughal, Hassan, & Ahmed, 2014; Romann & Fuchslocher, 2016).
In der Praxis nutzt man oftmals Röntgenuntersuchungen der linken Hand für die Einschätzung des SA. In Europa ist die sogenannte Tanner-Whitehouse 3 (TW3) Methode weit verbreitet (Tanner et al., 2001). Dabei werden Knochencharakteristiken und Entwicklungsindikatoren der Röntgenbilder mit Referenzbildern verglichen, um schlussendlich Rückschlüsse über das SA und somit das BA zu ziehen. Spieler, bei welchem ihr BA älter als ihr CA eingeschätzt wird, sind mit ihrer biologischen Entwicklung voraus (BA > CA). Umgekehrt gilt für Spieler, deren BA jünger als ihr CA eingestuft wird, dass ihre biologische Entwicklung zurück ist (BA < CA). Zur vereinfachten Beurteilung unterscheidet man beim SFV zwischen früh (1 < BA-CA), möglicherweise früh (0.5 < BA-CA ≤ 1), normal (-0.5 ≤ BA-CA ≤ 0.5), möglicherweise spät (-1 ≤ BA-CA < -0.5) und spät (BA-CA < -1) entwickelt.
Früh- und Spätentwickler im Vergleich
Zur Veranschaulichung des BES wird im Folgenden die Wachstumskurve eines Normalentwicklers in der männlichen Schweizer Bevölkerung verwendet und betrachtet (Abbildung 5). Zum Vergleich wird zusätzlich je eine typische Wachstumskurve eines Früh-, bzw. Spätentwicklers dargestellt (Carrascosa et al., 2018).
Individuelle Verschiebungen der Wachstumskurven
Der Start des Wachstumsschubs beginnt im Durchschnitt während des elften Lebensjahrs mit dem Beginn der Pubertät. Der Wachstumsspurt (PHV = «Peak height velocity») wird ungefähr drei Jahre nach dem Start des Wachstumsschubs erreicht. Ab dem 19. Lebensjahr ist nicht mehr mit grossen Zuwachsraten zu rechnen (Abschluss Wachstumsphase).
Es können individuelle Verschiebungen der Kurven bis zu zweieinhalb Jahre nach hinten (BA – CA = -2.5) oder vorne (BA – CA = 2.5) auftreten. In diesen Fällen spricht man von einem Spätentwickler (BA – CA < -1) respektive Frühentwickler (BA – CA > 1).
Je nachdem wie stark sich der Start des Wachstumsschubs zwischen Jugendlichen des gleichen chronologischen Alters (CA) unterscheidet, können Unterschiede in der biologischen Entwicklung von bis zu fünf Jahren entstehen (Malina, Bouchard, & Bar-Or, 2004).
Unterschiede verschwinden mit zunehmendem Alter
Mit dem früheren Einsetzen des Wachstumsschubs beim Frühentwickler während des neunten Lebensjahrs nimmt der Einfluss des BA kontinuierlich zu. Dies wird vor allem durch die erhöhte Testosteronproduktion und dem damit verbundenen Körpergrössen- und Muskelmassenwachstum erklärt. Im Alter von 13.8 Jahren bei Knaben erreicht der relative Unterschied den Höhepunkt, ehe der Unterschied im BA wieder abnimmt.
Die Abnahme ist darauf zurückzuführen, dass der Frühentwickler in seiner Entwicklung bereits weit fortgeschritten ist und der Spätentwickler mit dem Aufholen durch das Einsetzen seines verspäteten Wachstums beginnt. Im Alter von 20 Jahren ist der Unterschied im BA praktisch verschwunden, weil Früh- und Spätentwickler beide ausgewachsen sind.
Analog zum RA ist anzunehmen, dass Unterschiede im BA in der Selektion von Spielern in die Nachwuchsmannschaften ähnliche Einflüsse haben. Ein Frühentwickler hat durch seine körperlichen Vorteile einen Leistungsvorsprung gegenüber einem gleichaltrigen Spätentwickler (Till, Cobley, O’Hara, Cooke, & Chapman, 2013).
Frühentwickler sind übervertreten
Dieser vorübergehende Vorsprung in der aktuellen Leistung erhöht die Chancen selektioniert zu werden. Schliesslich ist damit zu rechnen, dass der Anteil an frühentwickelten Nachwuchssportlern in den Auswahlen grösser ist als der Anteil an normal- bzw. spätentwickelten. Studien aus der Vergangenheit festigen diese Annahme und zeigen eine Untervertretung von Spätentwicklern im Nachwuchsfussball (Figueiredo, Gonçalves, Coelho e Silva, & Malina, 2009; L. Müller, Gonaus, Perner, E. Müller, & Raschner, 2017).
Eine aktuelle Auswertung der U15-Nationalkader der letzten drei Jahre zeigt die Verteilung der Spieler auf die Entwicklungsstände (siehe Tabelle 1).
Zur Bestimmung des BA wurden DXA (dual-energy X-ray absorptiometry) -Scans der Handrücken erstellt und die TW3-Methode verwendet. Nimmt man als Massstab die Normalbevölkerung sind und waren Frühentwickler in der U15 in den Jahren 2015 bis 2017 übervertreten.
Diese Übervertretung wird durch weniger normal Entwickelte als erwartet (im Vergleich mit der Normalbevölkerung) kompensiert und nicht durch eine Minderheit der Spätentwickler. Als nicht invasive Methode zur Bestimmung des BA in der Praxis ist die Einstufung nach Mirwald ein gängiges Verfahren (Mirwald, R.L., Baxter-Jones, A.D.G., Bailey D.A., & Beunen, G. P., 2002). Das Vorgehen schliesst zum Abschätzen des BA unter anderem das CA und das Verhältnis zwischen Sitz- und Beinlänge ein.
Ganze Artikelserie (chronologisch)
Alterseffekte im Sport Vom Einfluss auf die Talentselektion (2018)
Die folgende Beitragsserie bietet eine aktuelle Bestandesaufnahme der Geburtsdatenverteilung im Schweizer Nachwuchsfussball und erklärt die Kombination des relativen Alters (RA) und des biologischen Alters (BA). Die folgende Beitragsserie bietet eine aktuelle Bestandesaufnahme der Geburtsdatenverteilung im Schweizer Nachwuchsfussball und erklärt die…
Alterseffekte im Sport Biologisches Alter und Entwicklungsstand
Während der Pubertät kommt es zu grossen Unterschieden im biologischen Entwicklungstand (BES) der Athleten, der durch den Vergleich des chronologischen mit dem biologischen Alter bestimmt wird. Für die Talentselektion spielt der biologische Entwicklungsstand ebenfalls eine grosse Rolle. Während der Pubertät kommt es zu grossen Unterschieden im biologischen Entwicklungstand (BES) der Athleten, der…
Alterseffekte im Sport Kombination relatives und biologisches Alter
Werden das relative Alter (RA) und das biologische Alter (BA) kombiniert, lassen sich präzisere Schlüsse für die Talentselektion folgern. Werden das relative Alter (RA) und das biologische Alter (BA) kombiniert, lassen sich präzisere Schlüsse…
Alterseffekte im Sport Lösungsvorschläge
Wie eine gesamtschweizerische Auswertung aller registrierten Knaben im Schweizer Fussball zeigt, ist eine ungleichmässige Geburtsquartalverteilung bereits in den Vereinen auf Stufe G bis E vorhanden. Wie eine gesamtschweizerische Auswertung aller registrierten Knaben im Schweizer Fussball zeigt, ist eine ungleichmässige Geburtsquartalverteilung…